#Wildnis
In dem Text “Holzfällen. Eine Erregung” von Thomas Bernhard gibt es eine interessante Passage, die sich auf den Wald und das Holzfällen bezieht. Um diese Passage zu kontextualisieren hier eine Zusammenfassung des Buches:
Wikipedia fasst den Inhalt des Textes so zusammen: “Das Ehepaar Auersberger veranstaltet ein „künstlerisches Abendessen“ und lädt dazu Freunde, Bekannte und einen Burgschauspieler ein. Die Gesellschaft unterhält sich gut, allein der Ich-Erzähler langweilt sich. Der Burgschauspieler lässt auf sich warten, und die Gesellschaft wird zunehmend betrunkener. Der Erzähler reflektiert auf dem Ohrensessel seine ihm immer nichtiger erscheinenden Beweggründe, überhaupt der Einladung des Ehepaars Auersberger gefolgt zu sein, und merkt, dass er für die Personen dieser Gesellschaft, von denen er die meisten über Jahre hinweg nicht mehr gesehen hat, nichts als Abscheu empfindet. Die Langeweile wandelt sich mit zunehmender Stunde zu immer exzessiverer innerer Erregung, die schließlich zum abrupten Aufbruch führt.”
Der Burgschauspieler, auf denen die gesamte Gesellschaft lange wartet erscheint zu später Stunde. Irgendwann referiert über die Natur, die er als einziges Heilmittel gegen den Wahnsinn der Künstlichkeit, der in der Gesellschaft herrscht, empfindet.
“Und sie musste den Burgschauspieler schon lange bevor ich ins Speisezimmer gekommen war, immer wieder, wie es ihre Art ist, gereizt und beleidigt haben, denn sonst wäre ja dieses geradezu explosive Aufbrausen des Burgschauspielers nicht verständlich gewesen. Jetzt war mir die Ursache jener merkwürdigen Ausbrüche des Burgschauspielers klar geworden, die ich auf einmal, noch im Vorzimmer sitzend, den Burgschauspieler aus dem Musikzimmer aus sich herausschreien gehört hatte, diese mir da noch unverständlich achwas Ekdal und achwas Gregers und achwas Wildente, die also, wie ich jetzt wusste, der den Burgschauspieler attackierenden Jeannie gegolten hatten. Ja, sagte der Burgschauspieler, indem er von seinem Platz aufstand und gehen wollte und der Auersberger, die mit ihm aufgestanden war, die ausgetrunkene Kaffeeschale in die Hand drückte, wie hasse ich im Grunde solche Gesellschaften, die es nur darauf abgesehen haben, alles das, das mir etwas bedeutet, herunterzumachen, tatsächlich alles, das mir immer etwas wert gewesen ist, in den Schmutz zu ziehen, wo doch nur mein Name und die Tatsache, dass ich Burgschauspieler bin, ausgenützt werden und wie sehne ich mich in Wirklichkeit nicht einmal so sehr nach Ruhe, als nach dem tatsächlichen Inruhegelassensein. Ja, ich habe immer gedacht, wenn ich als ein Anderer, als der ich es schließlich bin, geboren worden wäre, und überhaupt ein ganz Anderer geworden wäre, als der, der ich schließlich geworden bin, wenn ich doch endlich ein Inruhegelassener geworden wäre. Aber dazu hätte ich nicht von meinen, sondern von ganz anderen Eltern geboren werden und ich hätte in ganz anderen Verhältnissen aufwachsen müssen, in der freien Natur, wie ich immer gewünscht habe, nicht in der eingesperrten, überhaupt in der Natur, nicht in der Künstlichkeit. Denn wir alle sind in der Künstlichkeit aufgewachsen, in dem heillosen Wahnsinn der Künstlichkeit, nicht nur ich, der ich zeitlebens darunter gelitten habe, sagte der Burgschauspieler auf einmal, alle hier, sagte er, und er drehte sich nach der Jeannie um und sagte zu ihr, auch Sie, meine Liebe, die Sie mich mit Ihrem Hass verfolgen und mich verachten. Er wendete sich zuerst, ohne zu mir etwas zu sagen, mir zu, dann dem Auersberger und sagte zu dem total besoffenen, im Fauteuil eingeschlafenen Auersberger, dass es überhaupt ein Unglück sei, geboren zu sein, aber als solcher Mensch, wie der Herr Auersberg geboren worden zu sein, sei das größte. In die Natur hineingehen und in dieser Natur ein- und ausatmen und in dieser Natur nichts als tatsächlich und für immer Zuhause zu sein, das empfände er als das höchste Glück. In den Wald gehen, tief in den Wald hinein, sagte der Burgschauspieler, sich gänzlich dem Wald überlassen, das ist es immer gewesen, der Gedanke, nichts anderes, als selbst Natur zu sein. Wald, Hochwald, Holzfällen, das ist es immer gewesen, sagte er plötzlich aufgebracht und wollte endgültig gehen. Obwohl alle viel getrunken hatten, war am Ende doch, wie vor dreißig und wie vor fünfundzwanzig und vor zwanzig Jahren, nur der Auersberger total betrunken gewesen, er hatte, in seinem Fauteuil vollkommen eingesunken, gar nicht mehr wahrgenommen, dass alle Gäste aufgestanden waren, um zu gehen. Während ich selbst aufgestanden bin, hatte ich gedacht, der der Burgschauspieler schon im Verlauf des Fogoschessens und dann auch noch immer wieder einmal im Musikzimmer, diese drei Wörter Wald, Hochwald, Holzfällen gesagt hatte, ohne dass ich zuerst schon gewusst hätte, was er damit meinte. Meine Aufmerksamkeit während des Essens und auch danach im Musikzimmer, hatte sich ja lange Zeit naturgemäß nicht auf den Burgschauspieler, sondern auf die Jeannie Billroth konzentriert gehabt; während des Essens hatte ich die Jeannie mehr oder weniger nicht aus den Augen gelassen, gar nicht hingehört, die meiste Zeit, was der Burgschauspieler gesagt hat, nur ab und zu einen halben, im Grunde niemals einen ganzen Satz von ihm gehört; es hatte mich auch nicht im geringsten interessiert, was der Burgschauspieler während des Essens gesagt hatte, erst viel später, erst im Musikzimmer, also, nachdem der Burgschauspieler schon mehr, als ihm im Grunde zuträglich gewesen ist, getrunken hatte, war er auch für mich interessant geworden, weil er sich, wie ich jetzt denke in der Zwischenzeit völlig verändert hatte; es war doch alles, was er noch im Speisezimmer gesagt hatte, Unsinn gewesen, Geplauder und Geplapper, wie wir es von alten, ja schon greisen Schauspielern gewohnt sind, denen ich ja auch immer wieder aus dem Weg gehe, weil ich nicht hören kann, was sie sagen, weil mir ihre sogenannte Altersweisheit, die doch nur eine abstoßende Alstersboniertheit ist, eine Altersdummheit, um es ganz deutlich zu sagen, auf die Nerven geht. Alte Schauspieler gehen nurmehr noch auf die Nerven, habe ich immer wieder gedacht, und ich habe es immer verhindert, mit ihnen zusammen zu kommen; aber als der Burgschauspieler schon mehr getrunken gehabt hat, als ihm im Grunde zuträglich, war er auf einmal interessant geworden, durch seine Veränderung, durch ein plötzlich aus ihm zum Vorschein gekommenes merkwürdig Altphilosophisches genau da, wo er angefangen hatte, fortwährend die Wörter Wald, Hochwald und Holzfällen auszusprechen, die, wie ich jetzt weiß, nicht nur seine, sondern vieler solcher Menschen wie der Burgschauspieler und Millionen Anderer Lebensstichwörter sind; plötzlich ist mir am Ende dieses künstlerischen Abendessens zu Bewusstsein gekommen, was der Burgschauspieler mit diesen seinen Lebensstichwörtern sagen wollte, sich selber immer wieder sagen, den Anderen sagen, ja allen sagen wollte und ich habe angefangen ihm aufmerksam zuzuhören; aufeinmal, denke ich, ist dieser für mich zuerst so uninteressante, mir wie gesagt, doch nur auf die Nerven gehende Mensch, für kurze Zeit interessant geworden, hat er, wenn auch nur für diese kurze Zeit, meine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen und es interessierte mich auf einmal nicht mehr, was die Jeannie Billroth sagt oder die Anna Schreker, sondern nurmehr noch, was der Burgschauspieler gesagt hat und ich hatte mich dann auch von der Jeannie und von der Schreker ab- und dem Burgschauspieler zugewandt, ganz abgesehen von den Anderen während dieses künstlerischen Abendessens, die mich von Anfang an nicht interessiert hatten und denen ich auch niemals zugehört habe, nicht einmal das Wenige, das sie gesagt haben, habe ich gehört, dachte ich.”
(Bernhard, Thomas: Holzfällen. Eine Erregung. Frankfurt a.M. 1988: Suhrkamp Verlag. S. 300-305).
#Naturverbundenheit #Austeigertum #Natursehnsucht